Entweder oder sowohl als auch – Entscheidungsfreude im wahrsten Sinne

Entscheidungsfreude ge­hört zu den zentralen Fähigkeiten ei­ner erfolgreichen Führungskraft. Im All­tag ist das Fäl­len von Ent­schei­den aber häu­fig nicht mit Freu­de ver­bun­den. Ent­we­der man hat die Qual der Wahl oder man muss sich zwi­schen zwei Übeln ent­schei­den.

Wenn die Ziele der Mitarbeitenden nicht den Unternehmenszielen entsprechen

Kürz­lich habe ich mit den Lei­tern ei­nes re­nom­mier­ten deut­schen For­schungs­in­sti­tuts das The­ma «Ziel­ver­ein­ba­run­gen» dis­ku­tiert. Ei­ner der In­sti­tuts­lei­ter brach­te fol­gen­de Fra­ge ein: «Wie gehe ich vor, wenn die Zie­le mei­nes Mit­ar­bei­ters nicht mit den Zie­len des Un­ter­neh­mens ver­ein­bar sind?» Kon­kret ging es um ei­nen Dok­to­ran­den, der sei­ne Dok­tor­ar­beit mög­lichst schnell ab­schlies­sen woll­te. Das In­sti­tut hin­ge­gen wünsch­te wei­ter­ge­hen­de Ex­pe­ri­men­te, um sei­nem gu­ten Ruf ge­recht zu wer­den.

Eine ty­pi­sche Si­tua­ti­on, in der man das Klei­ne­re von zwei Übeln wäh­len muss. Ent­we­der be­rück­sich­tigt der Vor­ge­setz­te die Wün­sche des Dok­to­ran­den und nimmt da­mit in Kauf, dass das For­schungs­ge­biet nicht so de­tail­liert er­forscht wird, wie er sich das wünscht. Oder er zwingt den Dok­to­ran­den zu wei­te­ren Ex­pe­ri­men­ten und ris­kiert da­mit des­sen Un­zu­frie­den­heit, ver­bun­den mit ei­ner schlech­te­ren Ar­beits­leis­tung.

Vom «entweder oder» zum «Sowohl als auch»

Ich be­geg­ne in mei­nen Be­ra­tun­gen oft sol­chen «di­gi­ta­len Fra­ge­stel­lun­gen». Mit «di­gi­tal» mei­ne ich, dass die Ant­wor­ten auf den ers­ten Blick dem di­gi­ta­len Mus­ter von Null oder Eins, Ja oder Nein, schwarz oder weiss ent­spre­chen. Wer in die­ser Sach­la­ge so­fort ent­schei­det, hat tat­säch­lich nur die Wahl zwi­schen zwei mehr oder we­ni­ger schlech­ten Op­tio­nen.

Es lohnt sich des­halb dar­über nach­zu­den­ken, ob nicht ein «so­wohl als auch» mög­lich ist. Häu­fig fin­det sich die­ses, wenn man die bei­den Op­tio­nen als äus­sers­te Be­gren­zung ei­nes Kon­ti­nu­ums dar­stellt. In der Re­gel wird schnell klar, dass es wei­te­re Va­ri­an­ten gibt, die den Wün­schen bei­der Par­tei­en ent­ge­gen­kom­men.

Im obi­gen Bei­spiel wäre das eine Ex­trem der so­for­ti­ge Ab­schluss der Dok­tor­ar­beit und der da­mit ver­bun­de­ne Ver­zicht auf wei­te­re Ex­pe­ri­men­te. Am an­de­ren Ende der Ska­la stün­de die Durch­füh­rung sämt­li­cher denk­ba­rer Ex­pe­ri­men­te, was dazu füh­ren wür­de, dass die Dok­tor­ar­beit erst in ein bis zwei Jah­ren ab­ge­schlos­sen wer­den könn­te. Schon das De­fi­nie­ren der bei­den Ex­tre­me zeigt, dass di­ver­se Zwi­schen­tö­ne denk­bar sind, zum Bei­spiel in­dem die wei­te­ren Ar­bei­ten des Dok­to­ran­den auf die wich­tigs­ten Ex­pe­ri­men­te be­schränkt wer­den.

Mit dem Tetralemma zu weiteren Positionen

Noch mehr Mög­lich­kei­ten er­ge­ben sich mit ei­ner systemischen Strukturaufstellung. Da­bei wird das Pro­blem nicht nur ver­bal dis­ku­tiert, son­dern mit Platz­hal­tern im Raum dar­ge­stellt. Ins­be­son­de­re das Te­tra­lem­ma – ent­wi­ckelt von Insa Spar­rer und Mat­thi­as Var­ga von Ki­béd – er­öff­net ganz neue Mög­lich­kei­ten. Da­bei wer­den Vor- und Nach­tei­le für fol­gen­de Va­ri­an­ten durch­ge­spielt:

  • das Eine
  • das Andere
  • beides
  • keines von beiden
  • etwas ganz Anderes

Ge­star­tet wird mit dem Ei­nen, z.B. mit der Lö­sung, die aus Sicht des In­sti­tuts­lei­ters die ein­zig rich­ti­ge ist. Dann wird das An­de­re be­ar­bei­tet. Da bei­de Po­si­tio­nen mit Platz­hal­tern – z.B. Mo­dera­ti­ons­kar­ten – im Raum aus­ge­legt sind, hat man die Al­ter­na­ti­ve im­mer im Blick. Zu­dem kön­nen nicht nur Vor- und Nach­tei­le ab­ge­fragt wer­den, son­dern auch das Bauch­ge­fühl zu bei­den Va­ri­an­ten – ein wich­ti­ger In­di­ka­tor, wenn es dar­um geht, das Klei­ne­re von zwei Übeln zu de­fi­nie­ren.

Bei der Po­si­ti­on «Bei­des» wird eine Art Me­ta­po­si­ti­on ein­ge­nom­men. Man kann bei­de Al­ter­na­ti­ven gleich­zei­tig be­trach­ten und die Ge­mein­sam­kei­ten und Un­ter­schie­de  ent­de­cken. An­statt sich zwi­schen den bei­den Va­ri­an­ten zu ent­schei­den, ent­ste­hen plötz­lich neue Mög­lich­kei­ten der Ver­ein­bar­keit. Viel­leicht taucht so­gar die Fra­ge auf, ob ich mich über­haupt zwi­schen den bei­den Va­ri­an­ten ent­schei­den muss.

Dies führt zur Po­si­ti­on «Kei­nes von bei­dem». Dort ist die  die Dis­tanz zum Pro­blem noch ein­mal grös­ser. Kon­text und Um­feld wer­den zen­tral und am Schluss lan­det man bei der Fra­ge, ob viel­leicht nicht et­was ganz an­de­res zur Lö­sung des Pro­blems bei­tra­gen wür­de. In obi­gem Bei­spiel könn­te dies eine struk­tu­rel­le Ver­än­de­rung in der Aus­schrei­bung von Dok­to­ran­den­stel­len sein (Quel­le: Zen­trum für an­ge­wand­te Er­leb­nis­päd­ago­gik, Tro­gen).

Was auf dem Pa­pier eher lang­wei­lig tönt, ent­wi­ckelt sich als Aufstellung im Raum zu ei­nem span­nen­den Pro­zess, bei dem sich plötz­lich die Grenzen des bisher Gedachten auflösen und ganz neue Optionen ent­ste­hen. Und es geht da­bei durch­aus lustvoll zu, so dass der Be­griff «Entscheidungsfreude» wie­der eine gan­ze an­de­re Be­deu­tung er­hält.

Sys­te­mi­sche Struk­tur­auf­stel­lun­gen sind in der Wirt­schaft lei­der noch sel­ten in Ge­brauch – ein Ver­such lohnt sich aber. Pro­bie­ren Sie es doch bei der nächs­ten «di­gi­ta­len Ent­schei­dung» aus! Ich un­ter­stüt­ze Sie ger­ne da­bei.

Herz­lich

Bar­ba­ra Grass

P.S. Der oben­er­wähn­te In­sti­tuts­lei­ter hat üb­ri­gens eine gute Lö­sung für sein Di­lem­ma ge­fun­den. Er hat ei­nen zwei­ten Dok­to­ran­den ein­ge­stellt, der die Ver­suchs­rei­he wei­ter­führt.

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